CD-Einspielung: Roland Wilson, La Capella Ducale und Musica Fiata mit „Dafne“, der verschollenen Oper von Heinrich Schütz
Der 13. April 1627 nimmt einen besonderen Platz in der Geschichte der kleinen sächsischen Stadt Torgau ein. An diesem Tag fand auf dem prachtvollen Renaissanceschloss Hartenfels die Hochzeitsfeier des Landgrafen Georg II. von Hessen-Darmstadt mit Sophie Eleonore von Sachsen, der ältesten Tochter des Kurfürsten Johann Georg I., statt. Zeitgenössischen Quellen zufolge wurde dort den ganzen Tag gegessen, getanzt, gespielt und gesungen. Spätabends, „nach der Nachtmalzeit“, ließ der Kurfürst seine Gäste offenbar mit einer „Pastoral Tragicomoedie“ unterhalten, die „musikalisch auf den Schauplatz gebracht“ (sic!) wurde: „Dafne“.
In der Literatur als erste Oper in Deutschland und überhaupt als die erste deutschsprachige Oper bezeichnet, stellt die Dafne eines der größten Rätsel der Musikgeschichte dar. Ihre Partitur, komponiert vom kurfürstlichen Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585-1672), ist bis heute spurlos verschwunden. Die Oper wurde dadurch sozusagen zu einer Phantomoper. Vollständig überliefert ist lediglich das Libretto von einem prominenten Dichter der damaligen Zeit, Martin Opitz. Dieses enthält allerdings konkrete Anhaltspunkte für und Hinweise auf Schütz’ Musik. Insofern kann es nicht verwundern, dass sich im Laufe der Zeit bereits diverse Expertinnen und Experten um eine Rekonstruktion der Musik und dementsprechend um eine Wiederbelebung des Phantoms bemüht haben. In den meisten Fällen war dies jedoch nicht von Erfolg gekrönt.
Ein neue CD-Einspielung, die am 1. Juni 2022 beim Label CPO erschienen ist, präsentiert nun eine der wenigen gelungenen Lösungen des Rätsels. Realisiert wurde sie von Roland Wilson. Der britische Zinkenist, Dirigent und Musikwissenschaftler ist für seine Rekonstruktionen unvollständiger Werke von Barockkomponisten bekannt. Die Basis bildete hier eine umfangreiche Sammlung weltlicher und Opitzʼ Libretto inhaltlich verwandter Werke von Heinrich Schütz; mit einbezogen sind außerdem unbekannte Stücke anderer zeitgenössischer Komponisten.
Auf diese Weise erstellte Wilson gemeinsam mit seinen Ensembles, La Capella Ducale und Musica Fiata, einen ganz einzigartigen Rekonstruktionsversuch der Oper, welcher aber dem ursprünglichen Werk des Jahres 1627 sehr nahe kommen dürfte. Zugleich schuf er eine Art musikalische Gedenktafel zur Erinnerung an den Komponisten anlässlich dessen 350. Todestages.